Das unsichtbare Handicap
Datum: Freitag, 26.November 2004
Thema: Gesundheit & Rehabilitation


Über die gleichgeschlechtliche Liebe von Menschen mit Behinderung


Homosexualität scheint in der heutigen Gesellschaft kein Tabu mehr zu sein. Politiker in hohen Ämtern bekennen sich öffentlich zu ihrem Schwul-Sein und die Ehe als vermeintlich letzte Bastion traditioneller Werte hat durch die eingetragene Partnerschaft Konkurrenz bekommen. Dabei wird Homosexualität mit Lifestyle, Modernität und Jugend in Verbindung gebracht. Das öffentliche Interesse fokussiert meist auf schrille Typen aus der Schwulenszene. Schon lesbische Frauen oder ältere Schwule fallen aus diesem verengten Blickwinkel heraus. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Bevölkerung immer noch Probleme hat, Menschen mit Behinderung eine eigenständige Sexualität zuzugestehen. Dass diese dann auch noch schwul, lesbisch oder bisexuell sein können, ist für viele einfach undenkbar.



Die Schwierigkeiten, mit denen sich behinderte Lesben und Schwule konfrontiert sehen, sind facettenreich. Teilweise unterscheiden sie sich nicht von denen, die auch Homosexuelle ohne Handicap haben, teilweise entstehen aufgrund der Behinderung neue. Homosexuelle mit Handicap haben meist auch Probleme, sich mit der jeweiligen Szene zu identifizieren. Sie sitzen zwischen den Stühlen: in der Lesben- und Schwulenbewegung gelten sie als behindert, in der Behindertenbewegung als homosexuell.


Das Coming-out ist für jeden Homosexuellen, egal ob behindert oder nicht, eine schwierige Zeit. Man unterscheidet hier zwischen dem inneren Coming-out – dem Eingeständnis an sich selbst, schwul oder lesbisch zu sein – und dem äußeren, also dem Bekennen in der Öffentlichkeit. Dieser schwierige Prozess, sich mit seiner eigenen Sexualität auseinander zu setzen, fordert von allen Heranwachsenden Kraft und Mut. Jugendliche mit Handicap werden in der Pubertät aber zusätzlich mit ihrer Behinderung konfrontiert. Häufig werden sie durch ihr Umfeld auf diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit reduziert. Deshalb sind sich behinderte Teenager ihrer eigenen Sexualität oftmals gar nicht bewusst oder stehen sich diese nicht zu.


Thomas Rattay, Referent für Jugendliche mit Behinderung vom Jugendnetzwerk LAMBDA, kennt diese Problematik sehr gut: „In der Regel findet bei Jugendlichen ohne Behinderung das äußere Coming-out zwischen 15 und 17 Jahren statt. Heranwachsende mit Behinderung outen sich später, meist erst mit Anfang, Mitte 20. Daran sieht man, dass sich ihre Entwicklung an diesem Punkt verzögert, weil sie zwei Herausforderungen meistern müssen.“ Das bundesweit agierende Netzwerk für junge Lesben, Schwule und Bisexuelle hat sich zur Aufgabe gemacht, auch Jugendliche mit Behinderung in ihre Projekte zu integrieren.


Wie viele Menschen in Deutschland bei der Partnerwahl das gleiche Geschlecht bevorzugen, ist unklar. Schätzungen schwanken zwischen vier und zehn Prozent der Bevölkerung, wobei ein starkes Stadt-Land-Gefälle herrscht. Das Leben der homosexuellen Szene konzentriert sich auf die Großstädte. In Bars, Diskotheken oder anderen Szenelokalitäten wie speziellen Saunen für Schwule hat Mann und Frau die Gelegenheit, unter Gleichgesinnten zu sein und vor allem Kontakte zu knüpfen.


Sehr häufig allerdings sind diese Orte nicht barrierefrei. „So haben zum Beispiel Rollstuhlfahrer, deren Möglichkeiten ohnehin schon begrenzt sind, noch weniger Chancen, sich in die Szene zu integrieren“, sagt Rattay. Er kennt das Problem aus eigener Erfahrung, denn das LAMBDA-Büro liegt im zweiten Stock – ohne Aufzug.


Eine Minderheit innerhalb der Minderheit


Schwierigkeiten mit seiner Behinderung hat Marc (Name von der Redaktion geändert) nicht. Als Kind verlor er bei einem Unfall einen Arm. Seine Vorliebe fürs männliche Geschlecht bemerkte er mit 18 Jahren. Eher zufällig geriet er in die Schwulenszene: „Ich musste aufs Klo und ging auf eine öffentliche Toilette. Dort standen links und rechts von mir zwei Männer, die nichts taten. Irgendwann fingen sie an zu onanieren, worauf ich mit dem einen in der Kabine verschwand. Das war sozusagen mein erstes Mal mit einem Mann.“


Früher besuchte der heute 28-Jährige häufiger Szenebars und so genannte Klappen, öffentliche Toiletten, die als Schwulentreff dienen. Da er sehr viel Sport treibt und einen trainierten Körper besitzt, war ihm seine Behinderung bei der Partnersuche selten ein Hindernis. „Meistens schauen dir Schwule sowieso nur auf den Hintern oder zwischen die Beine. Dass ich nur einen Arm habe, entdecken sie oft erst mit Erstaunen beim Ausziehen“, meint Marc grinsend.


Doch so unkompliziert läuft es leider nicht bei jedem Schwulen mit Handicap. Denn gerade die schwule Subkultur definiert sich fast ausschließlich über ihre Sexualität, die sie offensiv nach außen trägt. So gehören One-Night-Stands und häufige Partnerwechsel ebenso zu Szenemerkmalen wie anonymer Geschlechtsverkehr auf öffentlichen Toiletten, in Parks oder Darkrooms. Das Vorurteil, behinderte Männer seien aufgrund ihres Handicaps impotent, hat sich bis heute in diesem Kontext hartnäckig gehalten.


Ein weiteres Charakteristikum der Szene ist der bis auf die Spitze getriebene Schönheitskult: Schönheitsideale, die heterosexuelle Männer in der Regel an Frauen stellen, hat die schwule Subkultur übernommen, auf Männer übertragen und sogar übersteigert. „Jeder, dessen Aussehen von diesen vorgefassten Normen eines perfekten Männerkörpers abweicht, kann es schwer haben, in der Schwulenszene zu bestehen. Für einen Mann mit einer sichtbaren Behinderung gilt dies natürlich besonders“, sagt Ludwig Raidl von der „Schwulenberatung Berlin“.


Einmal wöchentlich leitet er eine Gruppe für schwule Männer mit Behinderung und kennt aus vielen Beratungsgesprächen die häufig auftretenden Probleme. Oft hört er dabei von Depressionen, Suchtproblemen oder dem Versuch, das Handicap zu kaschieren – oder er hört gar nichts. Denn manchmal würden sich gehandicapte Schwule auch aus Furcht vor Abweisung innerhalb der Szene völlig isolieren und die eigene Homosexualität verdrängen. „Leider ist es so, dass eine Minderheit innerhalb einer Minderheit ausgegrenzt wird“, stellt Raidl fest.


Dabei verwundert es, dass in der Schwulenszene kaum ein Bewusstsein für behinderte Schwule existiert. Denn laut Statistik steigt die Zahl der behinderten Schwulen, da auch HIV-Infizierte einen Schwerbehindertenausweis beantragen können. Allerdings wollen Aidskranke meist nicht mit dem Behindertenstatus in Verbindung gebracht werden, weshalb auch Aids-Selbsthilfegruppen nur vereinzelt mit Gruppen aus dem Behindertenbereich zusammenarbeiten.


Lifestyle-Bubis an der Theke


Matthias (Nachname der Redaktion bekannt) hat seine Homosexualität jahrelang verdrängt. Seit seinem zwölften Lebensjahr fühlte sich der sehbehinderte Bürokaufmann mit einer leichten Spastik zu Männern hingezogen. Nach jahrelangen Depressionen und einem Suizidversuch hielt er den Druck nicht mehr aus und bekannte sich vor einem halben Jahr zu seiner Homosexualität. Heute blickt der 34-Jährige wieder zuversichtlicher in die Zukunft: „Ich bin gerade dabei, mich in die Szene einzufinden. Zum Glück habe ich aus meinem Umfeld bisher nur positive Reaktionen erlebt.“


Marc hat sich mittlerweile immer mehr von der Schwulenszene distanziert: „In Schwulenkneipen gibt es viele Lifestyle-Bubis, die nur auf ihre sexuelle Kosten kommen wollen, ansonsten aber den ganzen Abend über an der Theke stehen und in ihr Glas schauen. Mit solchen Leuten kann ich nichts mehr anfangen.“ Zurzeit führt er eine Beziehung mit einem 38 Jahre älteren Mann, und auch bei sexuellen Kontakten außerhalb der Partnerschaft kommt bei ihm „nur über 50“ in Frage.


Sucht man nach Beratungsangeboten oder Selbsthilfegruppen für behinderte Schwule und Lesben, wird man nur sehr schwer fündig. Zwar haben sich gehörlose Homosexuelle schon verstärkt zusammengeschlossen und ein Netzwerk gebildet, aber bei Angeboten für körperbehinderte Schwule stößt man nur auf kleine, regional begrenzte Initiativen.


Krüppellesben und Andersfähige


Lesben mit Handicaps haben es da in der Regel etwas einfacher. Es gibt spezielle Behinderten-Netzwerke und in manchen Beratungsstellen und Organisationen für lesbische Frauen und Mädchen wird versucht, gehandicapte Frauen zu integrieren. So ist das jährlich stattfindende „Lesbenfrühlingstreffen“, eine Tagung mit Gesprächsrunden und Workshops, für Frauen mit und ohne Behinderung konzipiert. Allerdings sucht frau auf der Anmeldung das Wörtchen „behindert“ vergeblich, denn – politisch korrekt –gibt es nur das Feld „andersfähig“ zum Ankreuzen.


Die Lesbenszene ist eng mit der Feminismusbewegung verknüpft. Aus diesem Grunde ist diese Subkultur viel politischer eingestellt als die der männlichen Kollegen. Frauen haben sich von vornherein mit dem Thema Gleichstellung auseinander setzen müssen. Dies wirkt sich auch auf behinderte Lesben aus. Sie gehen offensiver mit ihrer Behinderung um und nennen sich selbst provozierend Krüppellesben.


Generell ist die Lesbenszene allerdings trotz ihres politischen Engagements sehr viel unauffälliger als die Schwulenszene. In der Öffentlichkeit werden lesbische Partnerschaften, die meist dauerhafte Bindungen sind, oft „nur“ als Freundschaften wahrgenommen und daher nicht als gleichwertige Beziehungen anerkannt. Gerade behinderte Lesben erleben es häufig, dass sowohl die Szene als auch das übrige Umfeld ihre homosexuelle Neigung zu einer Notlösung degradiert, da ihnen eine Beziehung mit einem Mann nicht zugetraut wird.


Behinderung und Homosexualität im Sport


Welche Schwierigkeiten bei Schwulen und Lesben mit Behinderung nun wirklich auftreten, hängt aber immer stark von der Person selber ab. Entscheidend nämlich ist, ob man seine Behinderung akzeptiert und wie man seine Sexualität lebt. Eine mögliche Spielwiese für den souveränen Umgang mit Handicap und Homosexualität ist der Sport. Bei den schwul-lesbischen Europameisterschaften „EuroGames“ vom 24. Juli bis 1. August in München wurde erstmals der Versuch unternommen, behinderte Athleten in den verschiedensten Sportdisziplinen zu integrieren. Neben einem Rollstuhltanzwettbewerb fand auch eine Konferenz zum Thema „Homosexualität & Behinderung im Sport“ statt, bei der unter anderem die Soziologin Daniela von Raffay und der Schwulenreferent der Niedersächsischen Landesregierung, Hans Hengelein, referierten. Die Pioniere der schwul-lesbischen Behindertenbewegung, beide in ihrer Kindheit an Polio erkrankt, berichteten von ihren persönlichen Erfahrungen und forderten ein verstärktes Miteinander von behinderten und nichtbehinderten, von homo- und heterosexuellen Menschen (nicht nur) im Sport. Und Marc meint dazu: „Immer wenn ich einen schwulen Rollstuhlfahrer in der Szene oder auf dem Sportplatz sehe, macht mich das richtig stolz. Wir brauchen uns nicht zu verstecken!“ Schließlich geht es auch bei der schönsten Nebensache der Welt (dem Sport) um die schönste Sache der Welt: die Liebe.


Text: Tina Schmid



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